Szene 1: Prüfung
Arlen stieg mit langsamen, bemühten Schritten die Wendeltreppe des Turmes hoch. Dieser Turm, den er schon, so kam es ihm vor, tausendmal hoch gestiegen war, erschien ihm heute fremd und wie aus einer anderen Welt. Stufe um Stufe stieg er die steinerne Wendeltreppe hoch. Immer weiter dem Zeitpunkt entgegen, an dem sich alles ändern würde. Sein Schicksal würde sich für immer ändern, alles würde anders werden. Nein, das war nicht ganz richtig, dachte er. Sein Leben würde sich durch diese Prüfung ändern, aber nicht so erheblich. Er würde immer noch in der Oberstadt von Venata leben, seine Aufgaben würden sich auch nicht erheblich ändern. Er würde nicht plötzlich zu Janus persönlichem Perfecto befördert. Als seine Füße ihn weiter wie von alleine die Wendeltreppe hoch trugen, dachte er daran, dass es hier und heute gar nicht um sein Schicksal ging. Er war nur der Ausführende, der die Perfektion mit dem Mittel des Allmächtigen, der Perfectation, vermehrte. Im eigentlichen Mittelpunkt stand die junge Dame Agrippa, die Tochter irgendeines niederen Adeligen und irgendein Strassenkind. Wie war noch mal ihr Name? Martha, Magda, Maria? Es war eigentlich auch egal. Nach dem heutigen Tag würde er sie nie wieder sehen.
Merkwürdig, dachte er, als er die Tür zum Prüfungsraum aufstieß, ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, ob meine Fähigkeiten für die Prüfung ausreichen. Während er den Raum betrat, kam er zu dem Schluss, dass er die Prüfung schaffen würde. Er konnte die Perfectatio problemlos zur Vervollkommnung von Stühlen, Lampen und ähnlichem benutzen. Auch kleinere Tiere wie Katzen oder der Hund von gestern stellten für ihn kein Problem dar. Er würde die Prüfung schaffen. Er sah seinen Mentor Appius mit einem selbstbewussten Gesichtsausdruck an, mit dem er vor allem sich selbst überzeugen wollte. Dieser nickte ihm zu, aber, ob dieses Nicken aufmunternd gemeint war oder einfach nur als eine Zurkenntnisnahme seiner Anwesenheit, war schwer zu sagen, da er wie immer eine ausdruckslos Miene hatte. Als nächstes sah Arlen Agrippa an, die gelangweilt aussah und ein wenig erzürnt darüber, dass sie sich in einem so schlichten Raum befand. Der Raum war für Venata Verhältnissen wirklich schlicht: Nur vier goldene leicht verzierte Lampen hingen an den Wänden und nicht verzierte samtene Vorhänge hingen vor den Fenstern. Ansonsten war für die Perfectatio der Raum leer. Als letztes sah Arlen das Straßenmädchen, Margarete war ihr Name, an. Sie wirkte verwirrt und ein bisschen verängstigt. War es vielleicht falsch, das zu tun, was er gleich tun würde? Aber nein, sie oder ihre Familie würde eine große Summe von Agrippas Familie erhalten.
Appius räusperte sich und zog damit die Aufmerksamkeit von Arlen auf sich. „Sie können beginnen“, sagte er. Arlen konzentrierte sich mit seiner ganzen geistigen Kraft auf die beiden jungen Frauen, die dankenswerterweise beide immer noch still standen. Beide sahen ungefähr gleich aus und hatten auch mehr oder weniger die gleiche Statur. Eine Körpergröße von ungefähr 160 Zentimetern hatten beide, auch wenn Agrippa durch ihren leicht krummen Rücken ein wenig kleiner erschien. Auch das Gesicht von beiden sah ähnlich aus: Eine hohe Stirn, ein leicht vorstehendes Kinn, eine kleine Nase. Wider dem, was man sich klassisch vorstellt ,war nicht die Nase von Margarete krumm, sondern die von Agrippa. Damit solche Vorstellung weiter in den Köpfen der Menschen bleiben, dachte er, während er die Stirn runzelte, gibt es ja Leute wie mich. Er konzentrierte sich weiter auf jedes Detail und begann sich vorzustellen, was er perfektionieren wollte. Doch während er sich darauf vorbereitete, die Perfectatio einzusetzen, um die beiden Bilder in seinem Geist Wirklichkeit werden zu lassen, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf immer wieder, dass hier etwas nicht richtig war.